Ode an die Freude

In meiner frühen Jugend arbeitete ich eine Zeitlang als Schlosser in einem Metallbetrieb. Wenn ich am frühen Morgen die triste Werkhalle betrat, standen alle Arbeiter mufflig und noch halbverschlafen an ihren Werkbänken. Nur einer der Kollegen kam jeden Morgen gutgelaunt und fröhlich pfeifend hereingeschlendert. Das fröhliche Pfeifen steckte an; und wir gaben ihm deshalb den Spitznamen „die Meise“. Ich wollte unbedingt wissen, woher seine unbändige Lebensfreude kam. Und eines Tages, in einer stillen Minute, hat er mir sein Lebensmotto verraten: „Seid nicht bekümmert; denn die Freude am HERRN ist eure Stärke.“ Das ist ein Bibelspruch aus dem alttestamentlichen Buch Nehemia. Irgendwie ist es diesem Mann, den wir wegen seines fröhlichen Pfeifens „die Meise“ nannten, gelungen, den Sorgen des Lebens mit der Freude des Glaubens entgegen zu treten.

 

Noch heute erinnere ich mich manchmal an ihn, wenn Probleme und Sorgen allzu bedrängend werden und mir nicht nach Freuen zumute ist. Dann habe ich Sehnsucht nach einer freudigen Unbeschwertheit, die mich singen und springen und jauchzen lässt. Aber je älter wir werden, zieht doch eine gewisse Nüchternheit ein. Da muss schon viel passieren, dass wir in Jubelschreie ausbrechen. (Den Fußballbegeisterten unter uns passiert das momentan vielleicht noch am ehesten …)

Außerdem sind wir durch unseren Wohlstand mit Gutem verwöhnt. Dinge und Ereignisse, über die sich unsere Vorfahren noch von Herzen gefreut hätten, nehmen wir als Selbstverständlichkeit hin.

Und erzwingen oder gar anordnen können wir die Freude auch nicht. Verordneten Jubel kennen wir aus DDR-Zeiten, als sich sich die Partei- und Staatsführung bei diversen Anlässen selbst feierte und das Volk bitteschön zu applaudieren hatte. Aber das ist ja keine echte Freude. Das ist nur eine Inszenierung, bei der äußerer Schein und innere Befindlichkeit nicht übereinstimmen.

 

Was heißt das nun? Dass wir ernüchtert von den Erfahrungen unseres Lebens mit freudigen Gefühlsausbrüchen nicht mehr viel am Hut haben? Das wäre schlimm! Nicht jeder wird in laute Jubelschreie ausbrechen oder durchs Zimmer tanzen. Aber die stille Freude, die tut es auch. Wer mit wachen Augen durchs Leben geht, der nimmt staunend wahr, was Gott uns Gutes getan hat. Und aus dem Staunen erwächst die Dankbarkeit; und aus der Dankbarkeit die Freude. Die Psalmen, das großartige Gebetbuch der Bibel, helfen uns dabei, unsere Freude und unsere Dankbarkeit in Worte zu kleiden. Also: „Seid nicht bekümmert; denn die Freude am HERRN ist eure Stärke“ (Nehemia 8,10).

 

Superintendent Dr. Olaf Richter, Annaberg-Buchholz