Das sprungbereite Böse

"Folge deinem inneren Kompass!"; "Bleibe dir selbst treu!"; "Ich muss mir abends in den Spiegel schauen können!" Mit diesen sehr charmanten und sympathischen Lebensauffassungen, versuchen wir unserem Leben Richtung und Glaubwürdigkeit zu geben. Ich finde sie sehr sympathisch. Es sei die Frage erlaubt: Reichen sie aus?

 

Ein Blick auf die Ereignisse der letzten Monate, zwingt uns vielleicht doch diese Auffassung etwas genauer zu durchdenken: Selbstmordattentate in Moscheen, brutale Schießerein in Kirchen und Redaktionen, Brandanschläge auf Asylbewerberheime. Sie alle wurden organisiert von Menschen, die von der Richtigkeit ihres Handelns durchdrungen waren. Sind jene Täter dadurch entschuldigt, dass sie überzeugt waren das Richtige zu tun? Niemand wird dem zustimmen.

 

Wie sind die Gewalteskalationen, die lawinenartig über diese Erde rollen zu erklären? Meines Erachtens nur damit, dass derartige Neigungen jederzeit in vielen Menschen bereit liegen. In verhältnismäßig ausgeglichenen Zeiten bleiben sie unwirksam. Sie liegen aber sprungbereit da wie Raubtiere im Käfig. Sie lauern auf ihre Stunde, in der sie beispielsweise durch Ideologien freien Auslauf bekommen. Das sprungbereite Böse - Wer trägt es nicht in sich? Sie halten das für übertrieben? Ich halte das für realistisch. Ideologien, Meinungen und Schlagworte, das zeigt die Vergangenheit, konnten bei Menschen, Gruppen, ja ganzen Generationen die Türen für das radikal Böse öffnen. Meinungen, Parolen und Ideen sind keine harmlosen Seifenblasen aus menschlichen Gehirnen. Ihr oft so verzaubernder Klang entspringt  dunklen Tiefen.

 

Paulus, einst mit ganzem Eifer ein Verfolger der Christen, hat in seine eigenen Tiefen hineingeschaut. Ein Blick in seine Abgründe, der ihm erlaubt wurde im Angesicht Jesu Christi. Je tiefer er in die Abgründe blickte, desto größer und wunderbarer wurde ihm die Barmherzigkeit Gottes. Er schreibt: "Mir ist Barmherzigkeit widerfahren, denn ich habe es unwissend, im Unglauben getan." Für mich ist das die Erhörung der Bitte Jesu am Kreuz: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun."

 

Eine helle Perspektive über dem Dunkel dieser Welt erscheint: Ein fehlgeleiteter innerer Kompass, die eigene Untreue und die Scham beim Blick in den Spiegel machen Vergebung nicht unnötig, sondern im Gegenteil möglich.

 

Pfarrer Rico Drechsler, Ev.-Luth. Kirchgemeinden Thum & Jahnsbach