Wir sind das Volk!

Liebe Leserinnen, liebe Leser!

 

Tausende, zehntausende Menschen auf der Straße, jede Woche, und sie rufen: „Wir sind das Volk!“ Das erinnert mich an den Herbst 1989, da waren es auch Tausende, Zehntausende, die jede Woche auf die Straße gingen. Auch sie riefen: „Wir sind das Volk!“

Die Ereignisse von vor 26 Jahren scheinen sich zu wiederholen. Die Unzufriedenen melden sich zu Wort. Sie geben kund, wovor sie Angst haben und was sie wollen. Die Tausende, Zahntausende geben dem Einzelnen in seiner Unzufriedenheit und Angst Sicherheit.  

Die Ereignisse vor 26 Jahren wiederholen sich? Das mag auf den ersten Blick so erscheinen.

Beim näheren Hinsehen werden zwischen 1989 und 2015 Unterschiede überaus deutlich.

Damals, 1989, wurde auch gerufen: „Keine Gewalt!“, „Freiheit für die Andersdenkenden!“, „Pressefreiheit!“, „Reisefreiheit!“ Diese Rufe bleiben 2015 aus.

Damals wollten wir ein neues Miteinander. Damals wollten wir mehr Offenheit, das Recht auf Meinungs- und Religionsfreiheit. Ist davon auf den Demonstrationen der Tausenden und Zehntausenden 2015 noch etwas zu spüren?

1989 begleiteten und unterstützten die Kirchen die Forderungen der Demonstrierenden – zugegeben zunächst zögerlich, dann jedoch sehr deutlich. 2015 tun sie das nicht. Und das aus gutem Grund, weil es 2015 nicht für etwas (wie z.B. für Freiheit), sondern gegen etwas geht, z.B. gegen die Islamisierung des Abendlandes (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes).

„Heute nun, wenn ihr seine (Gottes) Stimme hören werdet, so verstockt euer Herz nicht“, heißt es in der Bibel (Hebräer 3,15). Es geht darum, auf Gott zu hören, nach seinem Willen und Weg zu fragen. Was Gottes Wille und sein Weg für uns Menschen ist, wurde durch Jesus gelebt. Er trat für etwas ein: Für Gottes Reich, in dem die Liebe sich durchsetzen wird. Daran glaube ich: An die Liebe, die dem anderen, auch dem Fremden gilt. An die Liebe, die sich einsetzt und sichtbar wird in Barmherzigkeit. An die Liebe, die einhergeht mit Demut. An die Liebe, die sich für Gerechtigkeit einsetzt, und den Armen in Schutz nimmt, aber den Reichen nicht an den Pranger stellt. Die Reichen werden eingeladen, die anderen in den Blick zu nehmen und Verantwortung für sie zu übernehmen.

Auf diese Stimme der Liebe, sichtbar geworden durch Jesus, gilt es zu hören.

Wenn diese Stimme der Liebe gehört wird, dann können wir nicht anders, als unsererseits mit den Taten der Liebe darauf zu antworten. Es sei denn, wir wehren uns dagegen und lehnen diese Liebe ab. Dann werden wir hartherzig, getrieben von den eigenen Befürchtungen und Ängsten. Dann bauen wir unser Reich, in dem für andere und anderes kaum Raum bleibt. Dann grenzen wir uns ab und andere aus.

Wenn auf die Liebe Gottes, sichtbar geworden durch Jesus, gehört wird, dann werden die Herzen nicht hart und das Denken nicht eng bleiben können. Dann wird sich der Herausforderung gestellt und angenommen. Und es wird erfahren, dass das alles Sinn hat und Sinn macht.

Übrigens Jesus hat nicht der Masse Glück und Segen zugesagt, sondern den Barmherzigen, den Sanftmütigen, den Friedensstiftern und denen, die für Gerechtigkeit eintreten.

 

Ihr Bernt Förster, Pastor der Evangelisch-methodistischen Kirche im Sehmatal