Allem kann ich widerstehen – nur nicht der Versuchung

 

Die folgende Geschichte wurde mir erzählt mit dem Hinweis, sie habe sich so ereignet: Ein Ehepaar gerät in eine Flugzeugentführung. Etliche Stunden lang werden die Passagiere auf einem Landeplatz festgehalten. Die Lebensmittel werden knapp. Alle als Geiseln Genommenen können aber schließlich glücklich entkommen. Einige Zeit später lässt sich die Frau von ihrem Mann scheiden. Sie hat ihn in der kritischen Zeit auf eine Weise erlebt, wie sie ihn vorher nicht kannte: ängstlich und egoistisch. Kein Beistand war von ihm zu erwarten, im Gegenteil: Bei der Zuteilung von Mahlzeiten dachte er nicht im Mindesten an andere, auch nicht an seine Frau. Er konnte nur die eigene Ration im Blick haben und gegen andere verteidigen. Hinterher sei ihr Mann wieder so wie gewohnt gewesen, auch zuvorkommend, sagte die Frau. Aber sie habe nicht mehr vergessen können, wie sie ihn dieses eine Mal erlebt hatte, und konnte das Leben mit ihm nicht weiter aushalten.

Diese Geschichte scheint keine zu sein, bei der es um „Versuchung“ geht. Das Ehepaar im entführten Flugzeug wurde nicht zu etwas verlockt, sondern in eine Situation gezwungen. Warum kam sie mir in den Sinn, als ich an die Vaterunser-Bitte dachte: „… und führe uns nicht in Versuchung“? Das war mir nicht gleich klar. Bis mir einfiel, dass „versucht werden“ auch bedeuten kann: getestet werden, gewissermaßen „auprobiert werden“. Am morgigen Sonntag wird in vielen Gottesdiensten die Geschichte von Jesus erzählt, der in der Wüste vom Teufel versucht, auf die Probe gestellt wird: Wird Jesus sich verführen lassen durch den Gedanken, Gottes ganz besonderer Sohn und Liebling zu sein, den Gott auf Händen tragen muss? Das weist Jesus von sich mit den Worten: „Du sollst Gott nicht versuchen.“

Wer eine Versuchung erlebt, kann dadurch etwas über sich erfahren. Etwas, das sich erst herausstellt, wenn es ernst wird. Das kann erschreckend sein, so wie bei dem Ehemann, den seine Frau nicht wiedererkannte. Es kann auch eine ungeahnte Stärke zum Vorschein kommen. Ich denke, dass viele Menschen nicht wirklich von sich wissen, was da herauskäme. Es wäre deshalb leichtfertig zu beten: „Ach, führe mich doch einmal in Versuchung!“ Es gibt Versuchungen, bei denen man nur einen Versuch hat – und sich dann nicht mehr beherrschen kann. Jemand, der das von sich selbst nicht kennt, urteilt schnell über andere. Leute, die ahnen, welcher Macht man da ausgesetzt sein kann, schließen sich der demütigen Bitte von Jesus an: „… und führe uns nicht in Versuchung“. Gott soll nicht der sein, der uns auf harte Proben stellt. Sondern der, der uns in ihnen beisteht.

Jörg Herrmann
Pastor
Friedenskirche Crottendorf
Evangelisch-methodistische Kirche

 

 

1) Oscar Wilde, Lady Windermeres Fächer, 1. Akt / Lord Darlington (Original engl.: "I can resist everything except temptation.")